Das Ende des 19. Jahrhunderts brachte zahlreiche revolutionäre Innovationen mit sich. Neben den vielleicht etwas offensichtlicheren Sachen, wie dem elektrischen Strom und der Glühbirne, gab es auch dramatische Änderungen in der Mobilität der Menschen. Die Eisenbahn war, mit Abschluss der ersten transkontinentalen Eisenbahnverbindung in den USA1 und groß angelegten Trassenausbauten in Europa, auf ihrem Siegeszug2. Städte und ganze Landstriche rückten so näher zusammen.
Aber auch im Bereich des Individualverkehrs tat sich einiges. Das Fahrrad wurde nach fast einem Jahrhundert der Innovation endlich so billig, dass es sich das erste Verkehrsmittel der Massen nennen konnte. Immer mehr Menschen konnten sich damit den Alltag vereinfachen. Der wohlhabende Teil der Bevölkerung vergnügte sich währenddessen mit den ersten, noch sehr teuren, Autos.

Einer dieser wohlhabenden Menschen war der Franzose Albert de Dion. Dion gehörte einer sehr alten Linie des französischen Hochadels an, in der neben ihm diverse Offiziere, Politiker, höhere Verwaltungsbeamte und ein Kreuzritter3 zu finden sind. Dieses Glück bei der Geburt sicherte ihm den Titel des Grafen und außerdem ein hübsches Familienerbe. Er nutzte es um die Auto-Firma De Dion-Bouton zu gründen, welche mit einer Produktion von unglaublichen 400 Automobilen um 1900 herum die größte ihrer Art weltweit wurde. Allerdings war er noch indirekt an etwas beteiligt, was ihm heute vermutlich etwas mehr Bekanntheit einräumt: Der ersten Tour de France.
Um zu verstehen, warum ein Autohersteller am vermutlich berühmtesten Fahrradrennen der Welt beteiligt ist, müssen wir uns ein wenig mit der politischen Landschaft in Frankreich um die Jahrhundertwende auseinandersetzen.
Die dritte Republik war damals erschüttert durch einen Spionagefall. Alfred Dreyfus, ein Mitarbeiter im Generalstab der Armee, wurde beschuldigt, vertrauliche Dokumente mit Militärgeheimnissen an die deutsche Botschaft in Paris ausgehändigt zu haben. Die recht komplexe Geschichte zieht sich über Jahre hinweg, ist geprägt von Konflikt zwischen Adel und Republik, Antisemitismus und grundsätzlichen Wertefragen; sprengt hier also ein wenig den Rahmen. Wichtig ist, dass die Affäre eine sehr tief reichende Spaltung Frankreichs zur Folge hatte, die die Bevölkerung in zwei Lager teilte: Die Nationalisten, die Dreyfus wegsperren oder verbannen wollten und die Republikaner, die sich für eine Neuauswertung der Beweise einsetzten.
Unser Graf und Autogroßmogul Dion schloss sich dem Lager der Nationalisten an, wie es auch große Teile des restlichen Adels taten. Seiner politischen Gesinnung verlieh er auf drastische Weise Nachdruck: Bei einer Gelegenheit schlug er beispielsweise dem damaligen Präsidenten mit seinem Gehstock so heftig auf den Kopf, dass diesem sein Hut über die Augen rutschte. Neben solchen Aktionen, die ich einfach mal unter bildungsbürgerlichem Ungehorsam zusammenfassen würde, griff er auch auf etwas zivilisiertere Methoden zurück.

Er erschien zum Beispiel wegen seiner Autofirma hin und wieder in Sportzeitschriften, die größte war dabei L’Vélo. Sein Kontakt dort war ein gewisser Pierre Giffard, der allerdings der anderen politischen Seite angehörte. Da beide Seiten zunächst profitierten, ging diese Beziehung einige Zeit lang gut.
Allerdings versuchte Giffard irgendwann zur Wahl anzutreten, was Dion, als sein politischer Gegner, missfiel. Er grub daraufhin eine alte Veröffentlichung Giffards aus, in der er sich über Autos als Verkehrsmittel ohne Zukunft lustig machte4. Also ein bisschen so wie heute, wenn jemand Beweise dafür ausgräbt, dass man Sex mit einer Couch hatte. Giffard verlor daraufhin die Wahl und verbannte de Dion als Rache aus seinen Veröffentlichungen.

De Dion machte nun einen klassischen Pro-Gamer-Move und gründet einfach eine eigene Zeitung. Er nennt sie L’Auto5 und lädt sich den Radsportler Desgrange als Chefredakteur ein, der einen ähnlichen Hass auf Giffard hat, da dieser sein Velodrom nicht toll fand. Behandelt wurden Motor- und Radsport, wobei wir uns nur für den Radsport Teil interessieren.
Die neue Zeitung hatte allerdings erstmal Probleme, eine große Leserschaft für sich zu gewinnen, da der bereits recht kleine Markt für ein solches Blatt fast komplett vom Konkurrenten L’Vélo dominiert wurde. Eine relativ beliebte Strategie bei solchen Problemen, war damals das Veranstalten von großen Events. Da Zeitungen das einzige Medium zu Informationsgewinnung war, konnten an den Veranstaltungen interessierte Menschen nur durch Kauf über diese erfahren. Deswegen wurden viele (Sport-) Wettbewerbe von Zeitschriften initiiert und durchgeführt – um die Auflage zu steigern. Und das funktionierte ziemlich gut. Je nach Erfolg und Popularität der Veranstaltung konnte die Leserschaft für kurze Zeit mitunter bis zu verzehnfacht werden.
Der Erfolg solcher Strategien passt ganz gut zu der Sehnsucht nach immer größeren und spektakuläreren Events, ausgelöst durch die erwähnte Stimmung der stetigen Verbesserung und des Übertrumpfens. Die Menschen wollten mehr und immer spektakulärere Erfindungen sehen. Das machte sich auch im Radsport bemerkbar.

Zuerst gab es Rennen in Velodromen, bei denen es um Geschwindigkeit und Ausdauer ging6. Als das nicht mehr beeindruckend genug war, wurden die ersten Rennen zwischen zwei Großstädten veranstaltet. Die bekanntesten waren Marseille-Paris und Paris-Brest-Paris.
L’Auto wollte den Wettkampf um den besten Wettkampf nun ein Ende setzen und erfand das, worum es in diesem Artikel eigentlich geht: Die Tour de France.
Ein Rennen durch ganz Frankreich sollte als Nebeneffekt auch eine Popularisierung des Radsports in kleineren Städten und der Provinz haben. Die Kosten dafür waren allerdings horrende Aufwände in der Organisation und extreme physische Belastung der Fahrer. Tatsächlich finden sich anfangs nicht genug Menschen, die teilnehmen wollen. Grund dafür ist auch, dass Sport damals noch eine pure Freizeitsache war7, also nicht professionell betrieben wurde. Die Teilnehmer hatten also alle noch richtige Jobs, die sie womöglich verlieren würden, wenn sie an einer so langen Tour teilgenommen hätten.
Mit einer Erhöhung der Preisgelder und einer Belohnung für jeden teilgenommenen Tag finden sich dann schließlich genug Teilnehmer und die erste Tour de France kann 1903 stattfinden. Die Marketingstrategie geht voll auf. Das Rennen ist ein überragender Erfolg und sorgt für eine Marktführerposition von L’Auto, die dafür sorgt, dass der Konkurrent L’Vélo pleite geht. Für uns viel spannender ist allerdings die zweite Tour, die im Folgejahr stattfand.

Die 1904 Tour de France lässt sich perfekt zusammenfassen durch den Satz: “It was a strange Tour and no one is sure exactly what happened.”. Hier ist das, was wir wissen:
Dadurch, dass das Rennen auf einer sehr langen Strecke und mitunter auch Nachts stattfand, war es nicht immer möglich die Fahrer zu jeder Zeit im Auge zu behalten. Auf den Sportlern lag, wegen der im Vorjahr gewonnenen Popularität des Rennens, weitaus mehr Druck, Leistung zu zeigen. Zum Teil griffen sie deshalb zu eher fragwürdigen Methoden. Radler wurden erwischt, wie sie Streckenabschnitte im Windschatten von Autos, im Windschatten von anderen Radlern, in Autos, in Zügen und in Kutschen zurücklegten. Der Favorit, Garin, nahm unbemerkt Essen von der Rennleitung an.

Auf der anderen Seite gab es da noch die Fans. Um die Sportler hatten sich regelrechte Kults gebildet, die vor keinen Mitteln zurückschreckten, um den Sieg ihrer Favoriten sicherzustellen. Während der gesamten Tour haben es die Radler deshalb mit Barrieren aus hauptsächlich Nägeln, aber auch Kisten zu tun. Die Fans bildeten auch Mobs, die mit Messern bewaffnet auf die Teilnehmer losgegangen sind, zum Teil wegen Betrugsvorwürfen, zum Teil einfach so. In einem Fall konnten eine besonders aggressive Ansammlung von Menschen nur mit Schüssen in die Luft auseinandergetrieben werden. Die Fans sind mitunter sogar selber aufs Rad gestiegen, um den Sportlern mit Windschatten zu helfen.

Was genau passiert ist, wie groß die Mobs tatsächlich waren und wer genau wie geschummelt hat, wird sich wahrscheinlich nie feststellen lassen. Wenig hilfreich ist dabei auch die Berichterststattung der Journalisten, die von einem Historiker wie folgt zusammengefasst wird: “It is not unusual for French sportswriters to invent dialogue to fit a historical scene.”.
Das Organisationsteam erlitt durch die Vorkommnisse vermutlich ein kollektives Aneurysma, weswegen sich vor allem der Hauptverantwortliche Desgrange zuerst gegen eine Fortsetzung der Tour im nächsten Jahr aussprach. Der Missmut war allerdings nur von kurzer Dauer, denn bereits ein paar Tage später, womöglich motiviert durch die Verkaufszahlen der Zeitung, wurde die Tour für 1905 bestätigt.
Hier sollte die Geschichte eigentlich zu Ende sein. Ich habe allerdings eine Parallele (sogar mit fast aktueller Relevanz) gefunden, die ich euch nicht vorenthalten möchte.
1900, also vier Jahre vor der katastrophalen zweiten Tour de France, fanden in Paris die zweiten Olympischen Spiele der Neuzeit statt. Und auch diese zweite Veranstaltung sollte fast das Ende einer jungen Tradition bedeuten.

Die Organisatoren hatten die Idee, die Spiele zusammen mit der 1900 in Paris stattfindenden Weltausstellung auszutragen. Von der Idee her klingt das ziemlich gut, allerdings lagen die Prioritäten eindeutig bei der Ausstellung, und nicht bei den Spielen. Olympia wurde auf keinem einzigen Flyer (links/auf dem Bild) oder Plakat erwähnt, niemand war sich also richtig sicher, was überhaupt wo und wann stattfand.
Hier sind die Highlights:
- Der Platz für die Leichtathletik war nicht wirklich existent. Stattdessen wurde irgendeine unebene Wiese zur Verfügung gestellt, die zum Teil von den Sportlern selbst in funktionierende Sportanlagen verwandelt wurde. Das führte dazu, dass der Gewinner beim Diskus, Rudolf Bauer, gleich drei Würfe ins Publikum feuerte, weil der Platz nicht reichte.
- Der Sprinter Stan Rowley aus Australien wurde in seiner Disziplin zweiter. Danach wurde er von den Briten als Ersatz für einen kranken Langstreckenläufer angeworben; ohne jemals dafür trainiert zu haben. Da dieses Rennen ein Teamevent war, musste er das Event nicht einmal beenden und gewann trotzdem Gold.
- Rowley wurde im Sprint von einem Läufer namens Kraenzlein besiegt. Kraenzlein gewann außerdem im Weitsprung, allerdings nur, weil sein Kontrahent an einem Sonntag nicht antreten durfte. Als der Wettbewerb trotzdem stattfand und Kraenzlein logischerweise gewann, wurde er von seinem nicht teilnehmenden Gegner ins Gesicht geschlagen.
- Übrigens gab es 1900 noch gar keine Medaillen. Die Sieger erhielten stattdessen “antike Kunst”, die sich später zum Teil als irgendwelcher Ramsch aus Trödelläden entlarvte, und andere “wertvolle” Preise. Ein Schwimmer erhielt zum Beispiel eine 50 Pfund schwere Bronze-Statue eines Pferdes.

- Beim Marathon gab es super lange Kontroverse, weil die Franzosen angeblich durch die Pariser Seitenstraßen abgekürzt hätten. Die Amerikaner behaupteten zudem, dass sie von einem Fahrrad umgefahren wurden, nie von den Gewinnern überholt wurden und regelmäßig den Weg nicht gefunden haben. Durch die Kontroverse wurde erst 12 Jahre später ein offizieller Sieger festgestellt.
- Tauziehen (coole Disziplin übrigens) wurde durch ein skandinavisches Team gewonnen, die ein krankes Mitglied durch einen zufällig anwesenden Journalisten ersetzten. Die Gegner waren Amerikaner, die sich nach der ersten Runde von Zuschauern haben helfen lassen. Daraufhin kam es fast zu einer Schlägerei zwischen den Teams, die gerade noch verhindert werden konnte.
Wie aus dieser kleinen Sammlung von Skandalen deutlich wird, waren die Olympischen Spiele von 1900 ein totales Disaster. Historiker sind heute überzeugt, dass nur durch die sehr erfolgreichen Spiele 1896 in Athen, die Idee der Veranstaltung nicht direkt wieder verworfen wurde. Auch hier rettete also der Erfolg einer der ersten Veranstaltung das Überleben des Franchises nach dem Scheitern der zweiten Veranstaltung.
Naja, wenigstens lief es bei Paris 2024 besser…
- Das war sogar schon 1869! ↩︎
- Okay, ich weiß schon selber wo die Tür ist… ↩︎
- von Wikipedia ↩︎
- Ich wünschte es wäre so… ↩︎
- Ursprünglich L’Auto-Vélo, nach einem verlorenen Rechtsstreit dann nicht mehr. ↩︎
- Mein Favorit ist folgende Story: Es gab ein Rennen, bei dem zwei Fahrer so lange wie möglich fahren sollten (ich glaube das Limit waren 48h). Als einer der Fahrer nach 27h immer noch nicht auf Klo musste, lockte das immer größere Massen an, die das Mysterium lösen wollten. Nach dem Rennen stellte sich heraus, dass er ein Rohr an seinem Rad benutzte. Seine Teamkollegen bildeten einen Ring um ihn, er entledigte sich (fahrend) ins Rohr, übergab es einem Kollegen und fuhr weiter. ↩︎
- Warum? Bis so ca. 1850 konnten sich nur Reiche leisten, Sport zu treiben. Arbeiter hatten einfach keine Zeit dafür. Mit mehr Arbeitsrechten konnten dann aber auch irgendwann ärmere Menschen in ihrer neu gewonnenen Freizeit Sport treiben. Damit diese armen Leute nicht besser wurde und die Reichen verdrängten, wurde das Amateur-Ideal hochgehalten, weil so z.B. Fabrikarbeiter nicht ihre Karriere aufgeben konnten, um für den Sport bezahlt zu werden. Die Oberschicht konnte so eine Zeit lang das Monopol auf Leistungssport behalten. ↩︎


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