Natur und Lyrik

Diesmal geht es um Alexander von Humboldt, den man mit gutem Gewissen als eine der bekanntesten Personen des 19. Jahrhunderts bezeichnen kann.1 Als Physikstudent bin ich natürlich etwas vorbelastet und wollte mich eigentlich über die naturwissenschaftlichen Erkenntnisse von Humboldt belesen, bin dann aber an etwas anderem hängengeblieben: der Art und Weise, wie Humboldt über seine Reisen und Forschung geschrieben hat. (Keine Sorge übrigens, Naturwissenschaften machen wir nachher trotzdem.)

Alexandre humboldt
Humboldt um 1806

Solltet ihr Humboldt nur von „irgendsoeiner Uni in Berlin“ kennen, dann seid beruhigt, hier ist eine kurze Biografie:
Wir schreiben das Jahr 1769. James Watt patentiert seine erste Dampfmaschine, James Cook beobachtet am anderen Ende der Welt den Venus-Transit vor der Sonne und in Berlin Tegel wird James Alexander von Humboldt als (2 Jahre) jüngerer Bruder von Wilhelm geboren. Die ersten 27 Jahre seines Lebens verbringt Humboldt in Europa, sein Lebensweg geprägt durch seine recht strenge Mutter. Er studiert in Freiberg und Hamburg, arbeitet danach als Bergassessor (Bergwerksinspekteur). Schon in dieser Zeit revolutionierte er den Bergbau in Preußen und Sachsen und forschte auf dem Gebiet der Geologie und vielen anderen Wissenschaften.
Nach dem Tod seiner Mutter erbte er viel Geld und sah sich in der Lage, seinen Kindheitstraum einer Expedition nach Amerika zu finanzieren. Er irrte einige Zeit durch das im Krieg versunkene Europa2, um jemanden zu finden, der ihn über den Atlantik schiffen konnte. Dabei lernte er in Paris seinen Reisebegleiter Aimé Bonpland kennen. In Spanien hatte er dann Glück und trat seine Reise an, die fünf Jahre dauern sollte.
Nach erfolgreicher Überfahrt durchquerte Humboldt gemeinsam mit Bonpland und in Begleitung einiger Indigos den Regenwald auf dem Orinoco (einem Fluss, heute in Venezuela und Kolumbien), bestieg zahlreiche Vulkane, erlebte Erdbeben und sammelte immens viele Tier- und Pflanzenarten. Über drei Jahre verbrachten sie so im nördlichen Teil Südamerikas, bis die Gruppe schließlich nach Mexiko aufbrach. Dort sammelte Humboldt weiter Daten und Informationen über die Vegetation, Geologie aber auch die indigenen Zivilisationen. Die letzte Station der Reise waren dann die frisch gegründeten Vereinigten Staaten von Amerika, wo sich Humboldt unter anderem mit Thomas Jefferson und einigen anderen Staatsmännern traf und anfreundete.

Humboldt-Bonpland Chimborazo
Humboldt (dritter von rechts) und Bonpland am Fuße des Chimborazo (größter Vulkan/Berg Südamerikas)

Zurück in Europa schrieb Humboldt dann viele Bücher, in denen er über seine Reisen berichtete und seine Erkenntnisse zusammentrug. Er lebte lange in Paris, kehrte aber gegen Ende seines Lebens nach Berlin zurück. Von dort aus trat er eine noch zweite Reise an, dieses Mal durch Russland, und sammelte dort weiter Daten, mit denen er die aus Amerika verglich und komplettierte.

Humboldts Biografie ist auch deshalb spannend, weil er nicht nur zeitgleich mit sehr bekannten Persönlichkeiten gelebt hat, sondern auch die meisten gekannt hat. Nach seiner Amerikareise stand er in Briefkontakt mit den US-Präsidenten Thomas Jefferson und James Madison, freundete sich mit Simon Bolivar3 an und traf in Frankreich Napoleon, der ihn jedoch lange für einen preußischen Spion hielt und überwachen ließ.
Schon vor seiner Amerikareise hat er sich außerdem mit dem rund 30 Jahre älteren Johann Wolfgang von Goethe angefreundet, den er über den Freundeskreis seines Bruders in Jena kennenlernte. Goethe war zu diesem Zeitpunkt schon der berühmteste Dichter in ganz Deutschland4, war jedoch durch sein Werk „Die Leiden des jungen Werther“ und die demotivierende politische Situation im Europa des späten 18. Jahrhundert eher energielos. Humboldt, der sein Leben lang stundenlang begeistert und mitreißend über die Natur reden konnte, schaffte es aber, Goethe, der sich ebenfalls sehr für Naturwissenschaften interessierte, neu zu inspirieren. Goethe war fasziniert von der Idee einer Urform, aus der sich alle Lebewesen entwickelt haben; ein Gedanke, der der Jahre später aufgestellten Evolutionstheorie sehr nahe kommt. Mit Humboldt zusammen experimentierte er auch viel mit Elektrizität, indem sie zum Beispiel Gliedmaßen von Fröschen zum Zucken brachten. Hinter der induzierten Bewegung glaubten sie Hinweise auf die Funktion von Nerven und dem Leben an sich finden zu können.

Schiller, Wilhelm und Alexander von Humboldt und Goethe

Aber auch Humboldt wurde von seinem neuen Freund inspiriert. Goethe beschrieb in seinen lyrischen Texten die Natur gefühlvoll und so wie sie auf ihn wirkte. Er ermutigte den bis dahin eher faktenbezogenen Humboldt, Natur und Fakten mit Kunst und Fantasie zu verbinden
Diese Erkenntnisse wurden noch durch die gerade veröffentlichten Werke von Kant verstärkt. Dieser trennte die Wahrnehmung des Menschen von der tatsächlichen Realität: Ein Beobachter kann die Welt also nie so wahrnehmen, wie sie wirklich ist, sondern immer nur eine, durch Subjektivität verzerrte, Version. Humboldt sah darin die Bestätigung für eine lyrische Beschreibung der Natur gemischt mit Fakten und Daten. Er fand sich in der Natur selbst wieder, was der damaligen Auffassung eher widersprach. Die Natur wurde für gewöhnlich als Diener für den Menschen betrachtet, die selber wenig komplex war.
Die Freundschaft von Goethe und Humboldt lässt sich übrigens auch in deren Texten wiederfinden. Faust teilt in der anfänglichen Beschreibung beispielsweise recht viele Charaktereigenschaften mit Humboldt: Beide streben nach universellem Wissen und haben recht wenig Interesse an materiellem Gut (Humboldt war sehr schlecht darin mit Geld umzugehen). In einem anderen von Goethes Romanen sagt eine Hauptperson „Wie gern möchte ich einmal Humboldt reden hören!“5. Humboldt revanchierte sich mit Widmungen in seinen Büchern und einer beigefügten Zeichnung, in der der Dichtergott Apollo den Schleier von der Natur zieht

Der Schreibstil, den Humboldt mit Inspiration durch Goethe und Kant entwickelte, zeigte nach Veröffentlichung seiner Bücher Wirkung. Seine Reiseberichte wurden schnell zu Bestsellern und fanden Beliebtheit bei angehenden Naturforschern aber auch bei nicht naturwissenschaftlich vorbelasteten Lesern. Weil Südamerika spanisches Kolonialgebiet war, kannten nicht viele im Rest Europas diesen Teil des Kontinents. Mit atemberaubenden Beschreibungen der Natur nahm Humboldt sein Publikum mit auf seine Reise durch den Regenwald und über die Gipfel der Anden; alles verwoben in lyrische Passagen.
Unter den Lesern befanden sich Größen wie Charles Darwin, der während seiner Reise auf der Beagle um die Welt, die er bereits inspiriert durch Humboldt angetreten hatte, den „Personal Narrative“ von Humboldt verschlang und seinen Schreibstil in Tagebüchern adoptierte. Jules Verne verewigte Humboldt in einer Vielzahl von Romanen und auch für Mary Shelleys Frankenstein könnten seine Experimente zur Elektrizität als Vorlage gedient haben6.

Zentralbibliothek Zürich - Ideen zu einer Geographie der Pflanzen nebst einem Naturgemälde der Tropenländer - 000012142
Humboldt verwendete viele Bilder um seine Beschreibungen zu unterstützen, hier seht ihr das „Naturgemälde“, was die Flora in den Anden darstellt

Natürlich hat nicht nur der Schreibstil von Humboldt zum Erfolg seiner Bücher geführt, auch der wissenschaftliche Inhalt war revolutionär. Er wich von der damals üblichen Beschreibung einer statischen Natur, die für den Menschen existierte, ab und ging stattdessen von einem komplexen Zusammenspiel einer Vielzahl von Arten aus, deren Lebensweise durch den Menschen gefährdet, und dementsprechend ganz und gar nicht statisch war. Sein Weltbild prägten, wie unser heutiges, Zusammenhänge und Wechselwirkungen. Kleine Störungen wie das Entwässern eines Sees, Abholzen von Waldstücken oder Überfischung können laut ihm ungeahnte große Folgen haben, die auch den Menschen beeinflussen würden. Er belegte seine Behauptungen mit Beobachtungen von seinen Reisen, wo binnen kürzester Zeit ganze Ökosysteme irreversibel verändert oder beschädigt wurden. Am Valenciasee sah er, dass Abholzungen für starke Überschwemmungen sorgten, was er mit der verringerten Wasseraufnahmefähigkeit des Bodens erklärte. Er berichtete auch vom Rückgang der Muschelpopulation durch Perlenfischen und der der Schildkröten, da ihre Eier für Öl verwendet wurden. Selber nannte er sich zwar nicht so, aber aus heutiger Perspektive könnte man ihn als einen der ersten Ökologen betrachten.
Bei seinen Reisen beobachtete er auch Gemeinsamkeiten in den Pflanzenarten, je nachdem in welcher Höhe oder Umgebung er sich befand. Darauf basierend entwickelte er einen Klimabegriff, der bis heute anerkannt ist und teilte die Welt in entsprechende Zonen ein. Zusammen mit den Erkenntnissen die ich gerade eben beschriebe habe, warnte er auch vor klimatischen Änderungen und deren Effekt auf Ökosysteme und Menschen. Dieses von ihm begründete Forschungsfeld, in der die Ausbeutung der Natur und die damit verbundenen Gefahren untersucht wurden, ebbte jedoch leider einige Jahre nach seinem Tod ab und gewann erst Mitte des 20 Jahrhunderts wieder Aufmerksamkeit.

So. Weil mir keine Überleitungen mehr einfallen, gibt es jetzt noch ein paar zusammenhangslose Fakten die ich spannend oder lustig fand.7
Humboldt war unfassbar gut vernetzt, was er natürlich seinem gesellschaftlich recht hohen Status, aber auch Charme zu verdanken hatte. Er erhielt jährlich 2500 bis 3000 Briefe aus aller Welt. Sein Netzwerk nutzte er vor allem, um wissenschaftliche Erkenntnisse zusammenzutragen. Er war aber auch an der Förderung des Austausches Forscher untereinander interessiert. Dafür veranstaltete er in Berlin einen Kongress, bei dem die Teilnehmer keine Vorträge halten sollten, sondern gemeinsame Aktivitäten unternahmen. Die Forscher waren in kleine, fachübergreifende Gruppen eingeteilt, so ausgewählt, dass möglichst viele Freundschaften geschlossen wurden.
Allgemein galt Humboldt als sehr nettes Vorbild für junge Wissenschaftler. Er ermutigte zum Beispiel Darwin mit einem Brief, in dem er sehr detailliert auf dessen Arbeit einging. Außerdem organisierte er mit seinem gigantischen Netzwerk Expeditionen für andere Forscher. Trotzdem hatte er einen recht sarkastischen Humor, den ich euch nicht vorenthalten möchte: Er nannte Ferdinand den 2. von Italien einen „Nudelkönig“, den Fürsten Metternich einen „Mumienkasten“ und den stimmstarken Kultusminister Johannes Schulze „kreischende Lokomotive“. Mit dem Kultusministerium, das auch für die Bewilligung von Forschungsgeldern zuständig war, hatte er generell ein Problem und charakterisierte die Arbeitsweise dort als „Murmeltierartiger Schlaf, alle Zugänge verstopft, Schweigsamkeit des Grabes, freundlich-sentimentaler Blick‚ es werde alles kommen, auch sei alles gar nicht so schlimm, als die Bösen es behaupten.“. Dazu sei gesagt, dass die meisten dieser Bemerkungen eher humorvoll als boshaft gemeint waren; sein Ruf als ironischer und schlagfertiger Komiker eilte ihm trotzdem voraus.
Humboldt redete allgemein sehr gerne und viel. Ich habe eine Geschichte gelesen, in der ein junger Pianist zu seinen Ehren vorspielte, Humboldt aber einfach weiter redete und seine Lautstärke noch erhöhte, als das Stück lauter wurde. Auch Darwin bekam dies zu spüren und sprach laut eigener Aussage bei einem Treffen mit Humboldt kaum ein Wort. In Lehrsituationen war diese Gabe Humboldts allerdings hilfreich, da sein Gesprochenes durchaus interessant und mitreißend war.

Ich weiß nicht, was ihr aus diesem Artikel mitnehmt, aber bei mir haben die Schilderungen von Humboldt einen bleibenden Eindruck hinterlassen. Ich hätte ihn gerne kennengelernt oder in einem Hörsaal zugehört und finde es faszinierend, dass er es auch 150 Jahre nach seinem Tod geschafft hat, mich, wie so viele andere zu seinen Lebzeiten, in den Bann zu ziehen.


WIe immer gibt es zum Ende ein paar Quellen und Artikel zum Weiterlesen, solltet ihr Interesse an Humboldt bekommen haben.

Footnotes

  1. Dieser Blog wird unabsichtlich immer mehr zu einer Geschichtswebsite. Nächstes mal wirds moderner, ich versprechs so halb. ↩︎
  2. Speziell durch die Koalitionskriege im Zuge der französischen Revolution (von deren Idealen Humboldt übrigens sehr begeistert war). ↩︎
  3. Der Name war mit nicht ganz geläufig; es handelt sich um den Anführer der Unabhängigkeitsbewegung in Süd- und Lateinamerika, falls jemand nachlesen mag. ↩︎
  4. Also im deutschsprachigen Raum, Deutschland an sich existierte ja noch nicht. ↩︎
  5. Ottilie in „Die Wahlverwandtschaften“ ↩︎
  6. Fairerweise hat sie ihn nie direkt erwähnt, sprach aber von deutschen Physiologen“. ↩︎
  7. Wenn euch Überleitungen einfallen, haltet euch bitte nicht zurück und schreibt sie mir. ↩︎

Antworten

  1. Avatar von M

    Scheint ein charismatischer Mann gewesen zu sein!

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    1. Avatar von

      Kann die Begeisterung nur bestätigen! Sehr guter Beitrag!

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  2. Avatar von

    Dieser Blog hat mein Leben verändert

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  3. Avatar von

    Dieser Blog hat mein Leben verbessert <333.

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